Neglect nach Schlaganfall: Fakten und Patientenerfahrung

Neglect nach Schlaganfall: So erlebt es der Patient

 

 

Zu Beginn der Frühreha bekam ich einen Therapieplan mit den einzelnen Terminen in der Woche. Da standen bekannte Begriffe wie Krankengymnastik, Ergotherapie undMotomed; Aber dann auch ein mir völlig unbekannter Begriff namens „Neuropsychologie. Darunter konnte ich mir erstmal überhaupt nichts vorstellen und blickte gespannt und neugierig auf den ersten Termin.

 

Was ist ein Neglect?

Ein paar Tage später war es soweit und ich saß im Büro eines Neuropsychologen. Er schob mich in meinem Rollstuhl( gehen konnte ich hier noch lange nicht wieder) an einen Tisch mit einem Desktop-Computer, der augenscheinlich schon älter war als der Psychologe und ich zusammen. An den PC angeschlossen waren zwei große einzelne Tasten, die aussahen wie Lichtschalter, die man auf den Tisch gelegt hätte.

Der Neuropsychologe startete den PC und dann ein Programm namens CogPack. Er erklärte mir, dass man damit verschiedene kognitive Funktionen testet und auswertet, die üblicherweise nach einem Schlaganfall eingeschränkt sind. Dazu gehörte auch das zweite Programm namens TAP – Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung.

Bei den folgenden Tests musste ich immer musste ich immer bei bestimmten Ereignissen eine der beiden Tasten drücken. Beispielsweise wenn in der Mitte des Bildschirms ein X erschien oder ein bestimmter Ton piepte. Eigentlich erschien mir das Ganze als Kinderkram und viel zu easy, um in einem seriösen Krankenhaus eingesetzt zu werden. Doch es musste wohl mehr dahinterstecken….

 

Nach den Tests zeigte er mir am PC die Auswertungen  in Form von statistischen Diagrammen, die meine Ergebnisse stets im Vergleich mit üblichen und gesunden Durchschnittswerten.

Dabei ging es um diese kognitiven Funktionen:

  • Alertness
  • Arbeitsgedächtnis
  • Augenbewegung
  • Crossmodale Integration
  • Dauraufmerksamkeit
  • Flexibilität
  • Gesichtsfeld/Neglect
  • Geteilte Aufmerksamkeit
  • Inkompatibilität
  • Verdeckte Aufmerksamkeitsverschiebung
  • Vigilanz
  • Visuelles Scanning

 

Die meisten Funktionen waren bei mir eingeschränkt und er erklärte mir, dass ich einen deutlichen Neglect hätte, wovon ich noch nie etwas gehört hatte. Mir war auch nichts aufgefallen, ich fühlte mich geistig klar und fit und konnte mich doch normal unterhalten, an alles erinnern und sogar neues lernen wie bisher so viele medizinische Fachbegriffe und Diagnosen rund um meinen Schlaganfall. Was sollte also dieser Neglect sein?

 

Der Psychologe erklärte mir, dass dies eine Wahrnehmungsstörung zur betroffenen Seite( bei mir links) sei, bei der das Gehirn alle möglichen Eindrücke nicht wahrnimmt, sondern ignoriert. Diese Störung ist multimodal und betrifft demnach sehen, hören und fühlen. Dabei ist nicht das jeweilige Sinnesorgan defekt, also Auge, Ohr oder Haut; Nein, die Eindrücke werden dort aufgenommen und auch korrekt über die Nerven zum Gehirn weitergeleitet. Doch das geschädigte Gehirn verarbeitet diese Informationen nicht mehr richtig. Daher der Name, denn „to neglect“ ist englisch für vernachlässigen. Gut, also angeblich vernachlässigt mein Gehirn jetzt Informationen von links. Er erzählte mir, dass die Betroffenen die oft erst nicht merken. Es gibt aber typische Auffälligkeiten wie beispielsweise das einseitige Rasieren, Gegenstände übersehen oder nicht bemerken von Ansprechen oder Schulterklopfen.

Die gleichen alten Computer und testprogramme begegneten mir übrigens auch noch in der Hauptreha sowie Jahre später beim Gutachter der Rentenversicherung.

 

Das Phänomen

 

Mit diesem Wissen ging die Reha weiter und schon bald fielen mir erste Situationen auf, die zur Erklärung des Neuropsychologen passten.

 

Eines Tages war ich unterwegs zur Ergotherapie und rollte mit dem Rollstuhl den Flur entlang. Plötzlich gab es einen lauten Knall und der Rolli stand urplötzlich fest, so dass ich beinahe vorn rausgefallen wäre. Für eine Sekunde dachte ich an einen Platten oder sonstwie defekten Rollstuhl. Aber dann schaute ich mich um und sah die Wand des Flurs verdächtig nah neben mir. Und ein Blick nach unten führte auf einen Heizkörper, den ich offenbar voll erwischt hatte. Moment ml, wo kommt der denn her? Gilt hier nicht rechts vor links?

Apropos links….. Wenn ich den Heizkörper jetzt deutlich sehen konnte, wieso bin ich dann dagegen gefahren?

Spontan erinnerte ich mich an die Ausführungen des Psychologen und den Neglect. Sollte mein Hirn jetzt etwa tatsächlich beim Fahren die linke Seite ignorieren? Mein geliebtes Auto kam mir in den Sinn und ich beschloss, weiter darauf zu achten.

Um die freie Zeit und Langeweile im Krankenhaus zu bekämpfen, hatte ich mir Bücher mitbringen lassen. Eines Abends legte ich eines auf den Tisch in meinem Patientenzimmer und rollte mit dem Rolli so dicht heran, dass ich auf dem Tisch lesen konnte. Denn mit einer Hand ist das Buch festhalten schwierig bis unmöglich je nach Dicke usw.

Ich las die spannende Geschichte und die Zeit verging. Doch plötzlich machte die Geschichte einfach keinen Sinn mehr. Von jetzt auf gleich befand sich die Hauptfigur an völlig anderen Orten und nichts ergab einen Sinn. Sofort hatte ich einen bösen Verdacht und begann das Kapitel vor vorn und sehr langsam zu lesen. Jetzt funktionierte es und der rote Faden war wieder da. Und ich erkannte auch, wo vorher das Problem war und sah wieder den Zusammenhang zum Neglect. Denn der Anfang eines Satzes und einer Zeile ist wo? Genau…. Links! Ich hatte also die Anfänge übersehen und immer wieder die gleichen Zeilen und Sätze gelesen ODER hatte Zeilen übersprungen. So kann man natürlich auch die beste Story zerstören.

Mir wurde ganz heiß vor Angst: Das konnte doch nicht sein, dass ich jetzt mit 26 plötzlich nicht mehr lesen kann und überall gegenfahre.

Nein, da spiel ich nicht mit. Ich dachte, wenn mir das Problem bewusst ist, müsste ich doch Strategien entwickeln können, um damit umzugehen. Das erinnerte mich spontan an den Film „A beautiful Mind“ mit Russel Crowe als John Nash. Der hat es doch so ähnlich gemacht und seine Schizophrenie mit Logik und offensivem Bewusstmachen bekämpft.

Beim vorliegenden Problem lag die Lösung nahe. Ich suchte mir ein gerades Hilfsmittel wie ein Lineal, um es beim Lesen unter die aktuelle Zeile zu halten und dann weiterzuschieben. Es funktionierte wunderbar und nach den ersten drei oder vier Büchern konnte ich das Hilfsmittel schon weglassen und mit bewusster Konzentration auch normal lesen. Ich erzählte das auch dem Neuropsychologen beim nächsten Treffen und er war begeistert. Es sei wohl ungewöhnlich, dass Schlaganfallpatienten so früh wieder lesen würden. Und so dachte ich schon, ich hätte den Neglect im Griff, aber es folgten weitere Auffälligkeiten.

Beim Essen im Speisesaal geschah es mir, dass ich noch Hunger hatte und nach Nachschlag fragte, die Speisesaal-Mitarbeiterin mich aber darauf hinwies, dass ich doch erstmal aufessen solle. Ich schaute auf den Teller und wusste sofort, was los war. Der Teller war noch genau halb voll und nur die rechte Hälfte, von einer sauberen Mittellinie getrennt, leer gegessen. Dies war doch ein klassisches Beispiel für den Neglect… Na toll, und jetzt ist es mir auch passiert.

„Als leidenschaftlicher Esser werde ich aber auch hier jetzt bewusst drauf achten“, dachte ich und tatsächlich sollte speziell dieses Phänomen erst einmal nicht wieder auftauchen. Allerdings in ähnlicher Form passiert es mir bis heute, 12 Jahre später, dass ich beim Essen etwas Bestimmtes suche und nicht sofort auf dem Teller finde oder etwas Nachschlag auf den Teller nachlege, um dann festzustellen, dass das Objekt der Begierde noch ausreichend vorhanden war…. Natürlich auf der linken Seite…

So passiert es auch regelmäßig, dass ich bei Fragen wie „Gib mir mal bitte das Wasser, Salz, Soße oder ähnliches“ erstmal einen Moment suchend umherschaue, um es dann natürlich links von mir auf dem Tisch zu entdecken. Und jedes Mal weiß ich genau, dass ich das früher ohne Neglect sofort im Blick gehabt hätte.

 

Allerdings lässt sich ganz eindeutig eine Besserung verzeichnen. Die beschriebenen Vorfälle werden immer seltener und mein Umgang damit stetig besser.

 

Der Neuropsychologe in der Hauptreha nannte mich einst „Meister der Kompensation“, weil ich eben das Problem des Neglects mit viel Bewusstmachen kompensiere. Und dies ist auch mit ein Grund, warum ich diesen Beitrag schreibe…. Um zu zeigen, dass sowohl die Zeit den Neglect verbessert als auch dass ein Umgang damit möglich und erlernbar ist. Zusätzlich gibt es natürlich zur Unterstützung auch entsprechende Therapiemöglichkeiten sowohl durch Therapeuten als auch durch bestimmte Übungen für zuhause. So kann bei Ergotherapeuten und Neuropsychologen oft auch die Software zum Training genutzt werden. Weiterhin gibt es einige Spiele und Gehirnjogging Programme, die helfen können.

Als einfachste Übung empfehle ich zwei Dinge:

– Lesen

  • Man nehme sich eine Zeitung und einen Stift. Nun wählt einen beliebigen Buchstaben aus dem Alphabet. Die Aufgabe ist nun, diesen Buchstaben in jedem Wort der Zeitung oder des Blattes durchzustreichen. Jemand anderes sollte mal zur Kontrolle drüber schauen und die übersehenen Buchstaben zählen. So kann man die Entwicklung zum nächsten Mal nachverfolgen.

 

Nochmal zum Verständnis: Ein Neglect ist KEIN Problem der Augen oder des Sehnervs. Hier wird der Neglect oft mit einer Gesichtsfeldeinschränkung verwechselt. Trotz perfekter Sehkraft und intaktem Sehapparat kann der Neglect also auftreten, WEIL er eben im Gehirn verursacht wird. Aber selbst Wissenschaft und Forschung haben den Neglect und die Prozesse im Hirn dazu noch nicht ganz verstanden.

Mir ist nur immer wieder aufgefallen, dass Schlaganfallpatienten auch gerne mal zum Augenarzt geschickt werden und eine Gesichtsfeldstörung diagnostiziert bekommen, die ich nach meinem Wissen in Frage stellen würde und mich frage, warum da kein Neglect getestet wurde.

Gerade wenn es um den Wunsch geht, nach dem Schlaganfall wieder Auto zu fahren, ist hier die richtige Diagnose lebenswichtig…. Insbesondere weil der Patient es oft selbst gar nicht merkt oder weiß.

4 Kommentare
  1. Bea
    Bea sagte:

    Moin, ich habe im März und am 11.07.2011 jeweils einen Schlaganfall überlebt. Ich konnte lange analoge Uhren nicht lesen un hatte mich links auch nicht gebürstet oder anständig angezogen. Das war eine gruselige Zeit.Heute bin ich wieder froh, zu leben.Mein Auto habe ich nicht mehr gern gefahren. Ich fahre nun lieber Dreirad, ist besser gegen meine Pfunde.

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