Der Gips-Irrtum: Ein Erklärungsversuch…

Wir Betroffenen können es nicht mehr hören:

„Oohhh ja, das kann ich mir gut vorstellen, wie schwer das ist – Ich hatte mal den Arm/ die Hand 4 Wochen in Gips“.

 

Wie der Titel schon verrät, IHR HABT KEINE AHNUNG!!!

 

Lasst mich hier bitte versuchen, euch zu erklären, dass dieser Vergleich lächerlich, unsensibel und vor allem falsch ist. Und wieso…

 

Zunächst möchte ich versuchen, die Situation eines Schwerbehinderten mit Halbseitenlähmung (Hemiparese) zu erklären und wie sich das anfühlt. Selbstverständlich kann ich nicht für alle Formen der Schwerbehinderung und Einhändigkeit sprechen, sondern nur aus meiner Sicht eines Schlaganfallpatienten. Da ich jedoch sehr viele andere Schlaganfall-Patienten mit gleichen oder vergleichbaren Folgen kennengelernt habe und zu vielen von ihnen Kontakt pflege und regen Austausch betreibe ( An dieser Stelle herzliche Grüße an die verschiedenen

Ffacebook-Gruppen zu diesem Thema, in denen ich Mitglied bin), glaube ich im Namen vieler Mitpatienten, Betroffenen und Angehörigen sprechen zu können.

 

Ich beginne meine Erklärung mit einem kurzen medizinischen Abriss: Bei einem Schlaganfall wird das Gehirn durch eine Blutung (Hirnblutung) oder MinderDURCHblutung (Ischämie durch ein Gerinnsel) stark beschädigt. Gehirnzellen und ganze Areale werden zerstört. Damit fallen diejenigen Funktionen zum Opfer, die von diesen zerstörten Hirnregionen/-Zellen gesteuert wurden. Wird beispielsweise die linke Hirnhälfte beschädigt, welche das Sprachzentrum beherbergt und die rechte Körperhälfte steuert( die Hirnhälften steuern immer die jeweils gegenüberliegende Körperhälfte), so kann der Betroffene nicht mehr sprechen (Aphasie) und ist rechtsseitig gelähmt.

Und somit kommen wir zum ersten Irrtum: Viele Außenstehende denken beim Begriff „Lähmung“ an eine Taubheit, ähnlich wie bei dem bekannten Phänomen der „eingeschlafenen“ Hände oder Füße. Das ist falsch. Lähmung bedeutet im Grunde einfach nur, dass wir das entsprechende Körperteil nicht bewegen können, weil eben der entsprechende Teil im Gehirn zerstört ist.  Unser Gehirn weiß gewissermaßen einfach nicht mehr, wie das geht.

Einmal zerstörte Hirnzellen oder auch Nervenzellen können auch nicht wieder regenerieren oder nachwachsen – was weg ist, bleibt weg!

Deshalb macht es eigentlich auch keinen Sinn, bezüglich Hirnpatienten (Ich nenne das jetzt mal so, weil auch Schädel-Hirn-Traumas (SHT) vergleichbar sind, z.B. nach Autounfällen) von Genesung oder Heilung zu sprechen oder zu wünschen.. Denn das wäre streng genommen ein Wunder.

Stattdessen gibt es nur einen Weg: Alles neu lernen bzw. umstrukturieren. Und das ist, was in einer Reha mittels Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie versucht wird. Unser Gehirn kann sich umstrukturieren, sodass die verbliebenen Hirnbereiche und Zellen die Aufgaben erlernen und übernehmen können, die zerstört sind. Deshalb ist so ein langer Weg und unglaublich anstrengend: Weil wir nicht genesen, sondern alles neu lernen. Aber nicht mit allen Funktionen funktioniert das immer gleich gut. So kenne ich viele Patienten (wie auch in meinem Fall), die zwar das Laufen wieder einigermaßen erlernt haben, aber andere Defizite bestehen bleiben, wie der Sprachverlust oder ein gelähmter Arm.

Das hängt auch damit zusammen, dass jeder Mensch unterschiedlich gut neues erlernen kann. So haben es bspw. junge Patienten oft leichter als ältere; Außerdem wird Rehabilitation mit zunehmedem zeitlichen Abstand zum Ereignis schwieriger und weniger erfolgsversprechend – Die ersten Wochen und Monate erreicht man am meisten.

 

Nun aber zurück zum gelähmten Arm: Wie fühlt sich das an?

Wie schon gesagt, hat eine Lähmung nicht unbedingt etwas mit Taubheit zu tun – tatsächlich kann das Gefühl und die Sensibilität im Arm völlig in Ordnung sein.

Ach apropos „in Ordnung“: Nochmal zur Klarstellung: Der Arm selbst ist dabei ja tatsächlich auch überhaupt nicht beschädigt, denn wir haben uns ja schließlich nicht den Arm verletzt oder den Nerv durchtrennt, sondern das Gehirn, welches den Arm gesteuert hat. Also eigentlich besitzen wir „Hemis“ einen völlig intakten Arm, dieser ist nur gewissermaßen „außer Betrieb“. Wie bei einem Roboter, der keinen Strom mehr hat. Ich verwende auch gerne das Gleichnis der Marionette. Die eigentliche Puppe/unser Körper ist völlig in Ordnung, ebenso die steuernden Fäden bzw. unsere Nervenstränge – Nein, das Problem ist: Der Puppenspieler ist tot! Und deshalb hängt die Puppe nur noch schlaff herum.

 

Und damit sind wir beim Stichwort: schlaff!

 

Dieses Wort beschreibt doch ziemlich gut, was ein gelähmter Arm eigentlich ist und wie es sich anfühlt. Im Grunde ist es wie ein Stück totes Fleisch oder irgendein gegenstand, der da an unserer Schulter hängt und vor sich hin baumelt.  Und so erklärt sich auch das Gefühl, ein Körperteil nicht bewegen zu können: Es geht einfach nicht und wir wissen nicht, wie es geht, weil unser Hirn gar nicht mehr weiß, dass da noch etwas ist, was zu mir gehört und früher mal bewegt werden konnte. Im Grunde ist genauso wie mit anderen Körperteilen, die wir alle nicht bewegen können. Zum Beispiel unsere Haare oder die Ohrläppchen. Ja ich weiß, einige denken, sie können das, aber letztendlich bewegen sie nur einen Ohrmuskel und nicht das Läppchen selbst!).

 

Versteht Ihr? – Das sind einfach „tote“ und fremde Teile, die wir einfach nicht bewegen können. Geht halt nicht, ist auch kein besonderes Gefühl, sondern einfach nicht in unserem Bewusstsein vorhanden.

Der große Unterschied ist, dass wir Ereignis-Patienten, also SHT oder Schlaganfall, eine Erinnerung an frühere gesunde Zeiten haben, in denen diese Funktion noch vorhanden war. Und so sehr wir uns auch mit der Situation arrangieren und unser Leben und den Alltag bewältigen, diesen alten Zeiten in Gesundheit werden wir IMMER nachtrauern und sie nie vergessen.

An dieser Stelle sei der große Unterschied zu den Schwerbehinderten genannt, die schon mit ihrer Behinderung geboren wurden.

Der Philosoph in mir würde vielleicht sagen: Wir hatten die Chance und Ehre, Eriunnerungen an gesunde Zeiten zu sammeln, was den behindert-geborenen leider nicht vergönnt war. Doch das führt jetzt zu weit.

 

Also nochmal kurz zusammengefasst: Wir Einhänder durch Lähmung  haben eine Körperfunktion verloren, die wir meist viele Jahre zuvor als selbstverständlich betrachtet haben und müssen nun mühsam lernen, mit einer verbliebenen Hand alle Aufgaben und Hürden des Alltags zu bewältigen. Und Alltag ist hier nicht so einfach dahin gesagt. Nein, das selbständige Leben und Versorgen ist das oberste Ziel jeder neurologischen Reha nach SA oder SHT. Denn es gibt nur eine Alternative: und die heißt Pflegefall! Das Wort sagt es ja schon – Irgendwer anders muss ja die Pflege des Patienten übernehmen, wenn er es nicht mehr selbst kann bzw. erlernt. Und so sind die ersten Ziele in der Reha zumeist das Wasch- und- Anzieh-Training und das Essen sowie der einhändige Umgang mit Besteck und dem sog. Einhänderbrett/Frühstücksbrett. Und nicht zu vergessen muss auch der Gang zur Toilette erlernt werden, wobei hier auch das verbliebene oder bereits neu erlernte Geh- und Stehvermögen wichtig ist, ggf. auch für den Wechsel vom Rollstuhl auf die Toilette.

 

Ich persönlich habe viele Wochen und Monate gebraucht, bis ich mich mit einer Hand selbständig waschen und anziehen konnte. Die Königsdisziplin „selbständig und stehend duschen“  erzielte ich erst nach über einem halben Jahr und führte zu ausgiebigen Freudentränen.

 

So meine lieben Freunde da draußen: Könnt ihr euch nun ein bisschen vorstellen, wie das alles so ist?

 

Und erkennt Ihr nun die Lächerlichkeit eures Gips-Vergleiches?

  • Ein Vergleich zwischen einem gebrochenen Knochen, der VON ALLEIN heilt, wofür man lediglich Zeit aufbringen muss ( diesen Luxus muss man erstmal begreifen, den uns unser Körper da schenkt) und einer lebenslangen Behinderung, die uns oft unverschuldet und eigentlich immer zu früh im Leben durch einen Schicksalsschlag zugefügt wurde. Ein wichtiges Adjektiv fehlt noch: unvorbereitet! – Die meisten von uns dürfte so ein Ereignis völlig aus dem Leben gerissen haben und Lebenspläne obsolet gemacht, Möglichkeiten verbaut und Träume erübrigt haben.

 

Ich hoffe, ich konnte mit diesem Artikel einen Einblick geben in die Erfahrung und das Leben von Patienten wir mir und leider viel zu vielen anderen.

Versteht mich nicht falsch: Ich möchte damit niemanden verurteilen oder angreifen, der jemals diesen Vergleich mit einem Armbruch gebracht hat; Vielmehr möchte ich informieren und aufklären, damit Ihr nicht irgendwann ungewollt jemanden vor den Kopf stoßt und umgekehrt euch nicht vor den Kopf gestoßen fühlt, wenn ein Betroffener eurem Vergleich nicht gerade lächelnd zustimmt..

Also erwartet bitte kein “ Jaja genau, hast Recht, das ist genauso wie dein Armbruch vor 20 Jahren…“

 

In diesem Sinne wünsche ich euch allen da draußen beste Gesundheit und ggf. gute Besserung!

 

Liebe Grüße vom Andi

 

12 Kommentare
  1. Michaela Hlousa-Weinmann
    Michaela Hlousa-Weinmann sagte:

    Lieber Andi,
    Du hast es auf den Punkt gebracht! Den Vergleich mit einem Gipsarm habe ich vor nicht allzu langer Zeit von einer Ärztin gehört, die es sicherlich nicht böse gemeint hat. Ich habe mir damals auch nicht allzu viel bei ihrer Bemerkung gedacht. Ich habe eine Hemiparese links als Linkshänder, zusätzlich hat es aber auch mein Sprachzentrum getroffen.

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  2. Florian Fanger
    Florian Fanger sagte:

    Wow – toll geschrieben. Ich kann voll nachvollziehen, was du meinst. Ich habe Aphasie und Hemipärese rechts…

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  3. Gertrude Sammer
    Gertrude Sammer sagte:

    Ich hab mir den Arm gebrochenund ich würde mir nicht einfallen lassen unser Schicksal zu vergleichen.. allerdings gibt es einen eine kleine Ahnung was es heisst. ein Bravo sich davon n icht unterkriegen zu lassen!

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